Korrespondenz mit Susi (16 Jahre im Jahre 1978) – eine Zeitreise ins BewusstSein.

Korrespondenz mit Susi 16 Jahre alt - 1978

Eine Zeitreise ins Bewusstsein

Vorwort: Wien 26.04.2020

Die gedanklichen Reisen in meine Vergangenheit werden mannigfaltig angestoßen. Es bilden sich Brücken zwischen dem Gewesenen und der Gegenwart. Diese mentalen Verbindungen dienen mir Großteils zum Verstehen unterschiedlichster Gegebenheiten oder auch zur besseren Akzeptanz meines Denkens und Handelns. Ob es tatsächlich immer notwendig ist derartige, manchmal anstrengende Abenteuer in meine jüngere Biografie zu wagen, sei dahingestellt. Aber manchmal passiert es ganz einfach, ausgelöst durch ein Ereignis.

So wie gestern Morgen, durch einen Anruf meines Bruders. Er teilte mir mit, dass unser Vater gestorben ist. Er war 78 Jahre alt. Was diese Nachricht mit mir noch macht, das kann ich noch nicht verifizieren. Das Telefonat, sowie Fotos, welche ich von meinem Bruder erhalten habe, rüttelten wieder einige Erinnerungen wach. 

Es waren erfreulicher Weise sogar einige bunte, angenehme Momente dabei, obwohl die ersten 16 Jahre meines Daseins doch vorwiegend schwarz geprägt waren.

Als Du 1978 hier gewesen bist, gab es das Kaffeehaus noch nicht. Damals war hier, glaube ich, der „Schöps“, oder? Warst Du zu dieser Zeit in Floridsdorf unterwegs? Doch, oder? Du bist ja mit der Schnellbahn in die Arbeit gefahren. Deine Lehrstelle, welche Du Dir ganz selbstständig gesucht hast. Nachdem die Handelsschule nicht so erfolgreich gelaufen ist. Was war geschehen? Du hattest doch immer so gute Noten. Achja, da war diese präpotente Professorin, irgendwie hat sie Dich nicht gemocht. Und bevor Du mit einem negativen Abschluss raus gehst, bist Du gegangen. War das damals auch schon dieses Rückzugsverhalten?

Susanne schwarzweiß Kind Rohrerwiese 60er
Susi

 

Innerlich wusstest Du doch, was für Dich nicht gut ist.
Dein Motto: „Ich weiß nicht, was ich will, aber ich weiß genau, was ich nicht will“.
Wie war das mit der Liebe? Kann man diesen Begriff überhaupt begreifen, wenn man nie welche erfahren hat? Kann sich dieses lebenswichtige Gefühl selbstständig entwickeln? Liebe lernen? Kennen lernen wohl eher. Du hast mir erzählt, wenn jemand etwas für Dich getan hat, konntest Du es nicht richtig einordnen. Also eine Einladung zu einem Eis oder Getränk hatte schon enorme Bedeutung. Das Wissen über Gefühle, positive wohlgemerkt, war gering. Woher solltest Du auch darüber Bescheid wissen. Niemand hat es Dir wirklich vermittelt oder davon erzählt. Und falls es Dir dann doch, das eine oder andere Mal widerfahren ist, war es Dir fremd. Du konntest wohl nur völlig irritiert reagieren. Ob Du Dir Zärtlichkeit und Geborgenheit gewünscht hast? Ich bin mir ziemlich sicher. Aber es war Dir fremd, und Du hattest Angst davor, mehr als vor den psychischen du physischen Grausamkeiten die man Dir angetan hat. Warst Du nicht damals schon eine Einzelkämpferin? Ich denke schon. Vertrauen war ebenso befremdend wie warme Gefühle.

Wie ist das, wenn man ahnt, alles Bisherige war falsch? Tief in Dir drin, waren immer die abertausend Fragen, das hat sich bis heute nicht geändert. Wieso hört man dann nicht darauf? Positive Orientierungshilfen konntest Du nicht wirklich nutzen und/oder gar ausloten. Gab es Menschen, denen Du vertraut hast? Deine Oma, vielleicht. Sie war immer sehr ehrlich und geduldig mit Dir. Ich glaube, sie war auch ein Mensch, der Dich gut kannte. Wirklich belügen konntest Du sie nicht.

Nicht aus Angst, vor Strafe, sondern aus Respekt vor ihr. Durch sie hattest Du ein paar wenige Freiheiten mehr, als Deine Geschwister. 2 Schwestern, 2 Brüder, alle jünger als Du. Sie waren Dir genauso fremd, wie Deine Eltern. Es gab kein familiäres Band. Jeder für sich, existierte. Deine Welt war ein Holzbett, der Oberteil eines Stockbettes. Darin hast Du schon Jahre zuvor Deine einsamen Nächte verbracht. Auch Polster und Decke haben sich nicht geändert. Durchtränkt von etlichen Litern mit Angstschweiß. Hast Du auch ins Bett gemacht, wie Deine Geschwister? Du hast mir einmal erzählt, dass Du lieber auf den Nachttopf gegangen bist, als aufs Klo. Die Gefahr, dass Dein Vater wieder aufgewacht wäre, war zu groß. Hast Du noch ein paar von den Dingen, die neben Deinem Polster im Bett standen und lagen?

Auf einem Foto sehe ich da einen kleinen Kassettenrecorder, einen orangefarbenen Stoffhund mit braunen Ohren (ist der nicht aus einem Geschäft hier in Floridsdorf?), was war da noch? Sicherlich auch Stift und Papier. Geschrieben hast Du ja schon damals. Und wenn es nur dutzende Seiten an Hausübungen waren. Hast Du noch den Kurzkrimi? Der war ja sehr unterhaltsam. Inspiriert durch Deine Ferialpraktikantenstelle im „Konsum“. Ein Monat Schuhe verkaufen, Ladendiebe beobachten und minderwertige Regenschirme an alte Menschen verkaufen. Wie hast Du das überstanden, als schüchternes junges Ding? Absolut kein Selbstvertrauen, keinerlei Erfahrung im Umgang mit Menschen. Das muss ja furchtbar gewesen sein. Wahrscheinlich warst Du froh, wenn Du die Mittagspause bei Deiner Oma in der Betriebskantine verbringen konntest. Dort waren zwar vorwiegend Männer in schmutziger Arbeitskleidung, aber alle waren sehr nett zu Dir. Oft gab es kleine Geschenke. Ein Stück Sachertorte, ein Bierstangerl, Mannerschnitten oder sogar ein wenig Geld. Dein erstes selbstverdientes Geld war das damals. Und nicht wenig, für die damalige Zeit. Hast Du Dir nicht ein sehr teures Fahrrad gekauft?

Stofftier Hund Puppen Bett Hirschstetten

Der vorhin erwähnte Kassettenradio erinnert mich daran, dass Du viel Musik gehört hast. Und die damals aufgenommenen Tondokumente gibt es heute noch auf über hundert Musikcassetten. Samt den Reinsprechern der Moderatoren. Gut, dass Dein Vater nie dahinter gekommen ist, dass Du seine Cassetten genommen hast, er hätte Dich wohl zu Tode geprügelt. Oft bist Du nur knapp entkommen. Ich denke, den Sturz aus dem 6.Stock auf Beton hättest Du wohl nicht überlebt. Die neue Wohnung mit viel mehr Platz und Bad mit Wanne, war doch irgendwie Hoffnung auf ruhigere Tage und Nächte. Doch es hat sich keineswegs was geändert. Abgesehen davon, dass Oma nicht mehr da war und sie keine Schläge mehr bekam. Das Zimmer hast Du mit Deinen beiden Schwestern geteilt. Die Buben hatten auch einen Raum für sich. Wobei ein Bruder von Dir, nach wie vor, meist bei der Oma war. Das Badezimmer konnte man abschließen. Aber eigentlich war es verboten. Und falls Du es dennoch gewagt hast, konnte es Dein Vater mit einem dafür vorgesehenen Schlüssel öffnen.

Spiel mir das Lied der Verbote |

Verbote waren ohnehin Dein Alltag. Du wusstest vorwiegend, was Du NICHT tun durftest. Auch wenn Dir Dein Inneres oft das Gegenteil flüsterte. Du hast es kaum gehört. Die Schreie Deines Vaters waren lauter als alles andere. Sie übertönten Diene ganze Persönlichkeit und machten Dich klein. Obwohl Du ja damals schon mit Deinen 16 Jahren 172 cm groß warst. Sehr schlank, wunderschöne dichte Haare und lange Beine. Die Kleidung, die Du getragen hast, war nicht immer Deine eigene. Es gab da die Cousine, die ein Jahr älter war als Du. Von ihr kam das eine oder andere Stück. Hattest Du damals eigentlich schon Schminkzeug? Ich denke, Du wusstest nicht wofür all die Dinge waren. Abgesehen davon, dass der Besitz davon streng verboten war.

Was hast Du getan, wenn Du nach der Schule nach Hause kamst? Sicherlich die gesamte Wohnung aufgeräumt. Vielleicht manchmal einen Kuchen gebacken. Freunde durftest Du niemals in die Wohnung lassen. Streng verboten! Und falls Du es doch das eine oder andere Mal gewagt hast, musstest Du jegliche verdächtige Spuren verschwinden lassen. Selbst den Fernseher, der im Wohnschlafzimmer Deiner Eltern stand, hast Du nicht benutzt. Er hätte es gewusst, dass Du ihn verwendet hast. Du hast mir doch einmal die Geschichte mit der Schallplatte erzählt. Der Nachmittag an dem Du mehrfach die Verbote Deines Vaters nicht befolgt hast. Die alten Singles waren interessant für Dich, und Du wolltest sie Deiner Schulfreundin vorspielen. „Spiel mir das Lied vom Tod“ (Ennio Morricone). Einen passenderer Soundtrack hätte der beste Regisseur nicht wählen können, für diese Szenerie.

Flucht und Alkohol |

Es gab bestimmte Uhrzeiten, da war klar, heute kommt Dein Vater sicher wieder voll besoffen nach Hause. Du konntest von Deinem Fenster aus, auf die Straße sehen, wo er parkte. Er stellte das Auto immer auf denselben Platz. Wenn der Wagen dann schon da stand, wusstest Du, es ist höchste Zeit. Entweder die Spuren Deiner Übertretungen verschwinden lassen, oder Du bist verschwunden. Zu Deiner Oma oder Tante geflohen. Das Wichtigste zusammen gepackt und weg. Aber nicht mit dem Aufzug runter fahren. Du könntest ihm ja noch begegnen. Erst, wenn Du im Bus gesessen bist, warst Du ein wenig erleichtert. Gut, dass es damals noch kein Handy gab. Und gut, dass Dein Vater äußerst selten bei Deiner Oma auftauchte. Er wäre dazu gar nicht mehr in der Lage gewesen. So besoffen kann man einfach nicht mehr ins Auto steigen. Abgesehen davon, war er oft auch so müde, dass er sich nur mehr ins Bett legte und laut schnarchte. Die gesamte Wohnung stank nach Alkohol und Wirtshaus. Ein vertrauter, aber mit Ekel behafteter Geruch. Warum hast Du dennoch schon damals des Öfteren Alkohol getrunken?

Wenn Du vor oder nach der Berufsschule in seltsamen Lokalen warst? Vielleicht wusstest Du schon damals, dass Saufen und Genießen einen Unterschied macht. Doch vorwiegend hast Du Brutalität im Zusammenhang mit Alkohol erlebt. Du hast aber auch gemerkt, dass auch nüchtern Dein Vater Dir nicht nah war. Wenn ich mich mit Dir beschäftige, erkenne ich wenige bis gar keine Gemeinsamkeiten mit diesem Mann. Niemand in Deiner Familie, auch Deine Oma nicht, konnte Dir beantworten, ob es jemals einen anderen Papa gegeben hat. Manche Fotos oder Super 8 – Filme scheinen es zu zeigen, aber gefühlt hast Du sie nie, die Liebe. Was hat Dich überleben lassen? Wohl Deine Unabhängigkeit und vielleicht auch das Gefühl, dass Du in Deinem damaligen Zuhause nicht Daheim warst. Niemand hat Dir gesagt, dass es nicht richtig ist, was sich da Tag für Tag abspielt. Du gingst davon aus, dass es überall so zugeht. Deine Verschlossenheit war Dein Schutzmantel. Reden war ohnehin, vorwiegend ein Tabu. Es durfte ja nichts von dem, was da geschah nach außen dringen.

Die wenigen Schreie

von Dir, der Lärm, das Toben Deines Vaters wurde in all den Jahren von den Nachbarn überhört. Wen interessiert schon, was da nebenan geschieht. Hoffe, Du bleibst mit mir weiter in Kontakt, Du Mädchen aus der Vergangenheit.

Musik, die damals so von den Musikkassetten aus dem Lautsprecher tönte:

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verfasst am 23.10.2014 aktualisiert am 26.06.2020 + 30.08.2023 ©Bluesanne

02:17:54 2023-08-30

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