Darf Frau mit 57 noch Träume haben?
Wien, 08.02.2019
In 44 Tagen habe ich Geburtstag. Mit unsicheren Schritten nähere ich mich dem siebenundfünfzigsten Schlüpftag meines Lebens. Die vielen Stürze haben Spuren hinterlassen. Sind sie noch da die Träume? Was habe ich verwirklicht?
Zumindest bleibe ich dran. Das Malen, Schreiben und die Musik sind und bleiben ein Hauptbestandteil in meinem Leben. Sie bestimmen meinen Alltag. Mit deren Hilfe überlebe ich. Der Rest ist kräfteraubend, anstrengend und mühsam, gehört eher zur Nebensache. Selbst die gesundheitlichen Einschränkungen möchte ich nicht in den Vordergrund stellen. Auch wenn sie das Selbige sehr beeinflussen. Genauso wie die finanzielle Situation. Keine wesentliche Veränderung, habe mein Leben dahingehend angepasst.
Ein Friseurbesuch, Fußpflege, neue Kleidung oder Schuhe kaufen, spontane Aktivitäten wie Essen gehen, Kino.-Theaterbesuch, Konzerte oder gar eine Reise, all diese Extras sind Luxus. Und eigentlich waren sie nie eine Selbstverständlichkeit. Ich wusste es immer zu schätzen, wenn ich mir mehr als die Miete plus sonstigen Lebensunterhalt leisten konnte.
Grundsätzlich träume ich nicht vom großen Geld, auch wenn vieles dadurch einfacher zu handhaben wäre. Das Kranksein und das Finanzielle sind Bremsen. Sie verlangsamen den Weg zur Umsetzung und Verwirklichung.
Oder bin ich noch nicht bereit, für das ganz Große? Vielleicht muss ich die einzelnen Teilerfolge zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Ein Traum portioniert in kleine Stückchen.
Einen weiteren Anteil davon, erfülle ich mir in 50 Tagen. Meine Bilder dürfen wieder in die Öffentlichkeit. Die Vorbereitungen für die Ausstellungseröffnung laufen auf Hochtouren.
Der große Traum hinsichtlich meiner Malerei: Eines meiner Bilder, in einem angesehenen Museum aufhängen! Ich stelle mir das wunderbar vor, wenn es da so von der Wand strahlt, zwischen all den anderen berühmten Werken.
Der große Traum des Lebens besteht aus einzelnen Episoden unterbrochen durch einige Albträume. So wirklich realisieren tut man es ohnehin meist erst im Nachhinein, denke ich.
Träume bedeuten Freiheit und haben kein Ablaufdatum.
Samstag, 14.11.2015 – Tag 11 / Zypern
Leere. Aktuell das vorherrschende Gefühl in mir. Leere, obwohl ich mich gerade eben beim allabendlichen gigantischen Buffet bedienen durfte. Täglich türmen sich hier derart viele Speisen, wo sich mir einige Fragen aufdrängen:
“ Wer soll das alles essen?, wie viele Tiere mussten dafür sterben und hatten sie ein gutes Leben?, ist das Gemüse biologisch aus der Region, mussten unterbezahlte Erntehelfer dafür schwer ackern?, wie sehr schadet der Tourismus der Insel?; darf ich hier eigentlich Glück empfinden – trotzt alldem, was gerade mit der Welt passiert?
Leere, obwohl ich hier meine erste Urlaubsreise seit 2006 verbringe. Urlaub, den ich mir eigentlich gar nicht leisten kann, dennoch gönne ich ihn mir. Ich bin 53 Jahre alt, und habe von der Welt noch nicht allzu viel gesehen. Europa noch nie verlassen.
In der Métro von Paris zerbrach im Mai 1997 für mich eine große Liebe. Diese Liebe verließ mich mit den Worten:„Lebe, erst mal Dein Leben!“ Ich habe das damals nicht verstanden.
Die meisten Menschen haben wohl im Alter von 34 Jahren schon einiges erlebt. Haben als Teenager die Welt auf den Kopf gestellt. Haben vielleicht abenteuerliche Reisen gemacht. Haben sich in die geheimnisvolle Welt von Sex und Liebe gewagt. Haben möglicherweise mit zu viel Drogen und Alkohol experimentiert. All diese Erfahrungen habe ich bis zu dieser Zeit nicht gemacht. Meinte dieser liebe Freund DAS mit „Leben, leben?“
Nun, ich habe mein Dasein, seither verändert. Zumal mir immer bewusst war, dass ich damit meine Kindheit, Jugend und auch die Jahre danach nicht zurück.- oder aufholen kann. Alte eingefahrene Wege habe ich Stück für Stück verlassen. Und mir war es egal, ob es meinem Alter entsprechend ist. Alles was sich definitiv nicht nach „Leben“ anfühlte, ließ ich hinter mir. In so mancher Hinsicht ein Wagnis. Aber ich zog ein prekäres Leben als Alleinerzieherin ohne Job, der Gefangenschaft in Ehe und der gesicherten Arbeitsstelle ohne finanzielle Sorgen vor. Unvernünftig? Verantwortungslos? Es fühlte sich befreiend an.
Ein erster Schritt auf der größten aller Reisen, Expedition Leben. Mittlerweile ist es auf den Tag genau neunzehn Jahre her, dass ich diesen Entschluss gefasst habe, diesen Weg ein zu schlagen. Eine Fahrt ins Blaue. Diese Jahre waren voller Entbehrungen. Sie bescherten mir viele Verluste, Ängste, Unsicherheiten, Trauer und Krankheit. Aber diese Zeit hat mir bei weitem mehr an wahrhaftigen Leben geschenkt, als die ersten 33 Jahre zuvor. Diese 19 Jahre gehören mir alleine. Selbstbestimmt, soweit es mir möglich war, so gut ich es konnte. Ich musste meine Freiheit lernen. Lernen, frei zu entscheiden und auch zu handeln.
Heute, hier auf der Insel voller Sonnenschein, unendlichem Meer, duftenden Olivenbäumen, dutzenden Stunden in Cafés verweilend – bin ich leer. Ist es eine Leere, die sich wieder füllt? Ist es eine Leere, die bleibt? Oder sind es einfach nur diese kranken Dissonanzen der Depression, der PTBS, der Panikattacken?
In Paphos/Hafen saß ich heute das zweite Mal im gleichen Cafe, wie auch zwei Tage zuvor. Genieße einen Espresso, samt Trauben als Gratisbeilage, beobachte die Menschen und bewundere das Meer. Plötzlich, scheinbar aus dem Nichts, fließen versteckt unter der Sonnenbrille, Tränen. Tränen der Rührung? Melancholie? Traurigkeit? Ich kann es nicht einordnen. Und auch heute, wieder dasselbe Szenario. Das starke Gefühl: „Hier ist mein Platz, hier gehöre ich hin“; macht sich in mir breit. Nie wieder aufstehen, nie wieder weggehen, bleiben? Wohin gehöre ich?
Soll ich mit 53 Jahren noch einmal mein Leben völlig neu umkrempeln? Ohne Job, als Mensch der krank ist, ohne finanzielle Ressourcen?
Lediglich mit einem Traum ausgerüstet – einfach losziehen, loslassen? Visionen von Friede im Koffer. Herzenswärme, Liebe und Zuversicht im Handgepäck.
Wohin führt diese Reise?
„Du bist zu alt, um zu träumen!“
Nein, ich bin zu sehr Philanthrop und Pazifist, um nicht zu träumen. Mit wenig Geld habe ich gelernt zu leben; aber ohne die erlernte Freiheit möchte ich nicht leben. Nicht mit 53 Jahren auf dem Buckel. Da sehe ich mich doch viel lieber in einer kleinen Hütte im Wald am Meer als pinselnde, schreibende, Alltags philosophierende und rothaarige Hexe lebendig dem Tod entgegensehen. Somit kann ich vermutlich doch noch ein wenig Freude an die Menschen weitergeben. Falls die neue große Liebe in meinem Leben nicht mehr auftauchen sollte, dann mögen mir noch viele unbeschwerte erotische Amouren bis ins hohe Alter beschert sein.
Ich denke, das ist weitaus lebenswerter als die vermeintlich konditionierte Zukunft als vereinsamte, frustrierte, noch kranker werdende, vom Leben isolierte, alternde Last der Gesellschaft zu enden.
Freude, statt Sorgen bereiten.
Nundenn…liebe Welt, lass mich noch einige Tränen der Freude, Melancholie oder BeRührung vergießen. Sie sind zweifellos lebenswerter als die Leere!
verfasst am 14.11.2015 aktualisiert am 08.02.2019 ©Bluesanne